Wie schätzen Sie das Potential bei der Nutzung von Wasserstoff und Wasserstoff-Derivaten in der Schweiz ein?
Prof. Andreas Züttel (EPFL): Wasserstoff erfüllt zwei Hauptaufgaben: Als grüner Wasserstoff mit erneuerbarer Energie aus Wasser hergestellt kann er all den aus Methan oder Erdöl hergestellten Wasserstoff ersetzten und fungiert als Bindeglied zwischen der Elektrizität und den chemischen Energieträgern (P2X). Zum andern als Energieträger zur Speicherung erneuerbarer Energie und deren Anwendungen. Auch in der Kombination der beiden Aspekte z.B. bei der Umwandlung von Bioöl in reine Kohlenwasserstoffe (analog zu Mineralöl). Wasserstoff wird mit der Zunahme der erneuerbaren Energie gewaltig an Bedeutung gewinnen.
Suzanne Thoma (Executive President, Sulzer): Wasserstoff ist unverzichtbarer Ausgangsstoff für die chemische und pharmazeutische Industrie: von Düngemitteln über Medikamente bis hin zu Nahrungsmitteln kann er fossile Ausgangsstoffe in zahlreichen Bereichen ersetzen. Dieser Bedarf an Wasserstoff als chemischer Ausgangsstoff kann nicht durch Strom ersetzt werden, er braucht die Bereitstellung der Moleküle. Und auch die energieintensive Industrie ist auf Wasserstoff angewiesen. Der genaue Bedarf ist noch zu beziffern. Er wird schlussendliche davon abhängen, ob der Wasserstoff zuverlässig und kosteneffizient zur Verfügung steht.
Daniela Decurtins (Direktorin Verband der Schweizerischen Gasindustrie): Grüner Wasserstoff hat ein grosses Potenzial, um eine klimaneutrale Energieversorgung zu ermöglichen. Er bietet die Möglichkeit, erneuerbaren Strom chemisch zu speichern, zu transportieren und auch im Winter verfügbar zu machen. Gerade in der Industrie, die zum Teil Temperaturen über 500 Grad für ihre Prozesse benötigt, spielt grüner Wasserstoff bei der Defossilisierung der Energieversorgung eine zentrale Rolle. Spitzenlastabdeckung bei Wärmeverbünden, der Schwerverkehr oder die Stromproduktion sind weitere Anwendungsfelder.
Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, damit sich in der Schweiz eine Wasserstoffwirtschaft etablieren kann?
Züttel: Wasserstoff aus erneuerbarer Energie ist pro Energieeinheit ca. 10 mal so teuer wie Elektrizität direkt von der PV, die Ausnahme ist die Wasserstoffproduktion direkt im Wasserkraftwerk. D.h. die Wasserstoffproduktion ist am günstigsten, wenn man tiefe Elektrizitätskosten und konstante Leistung zur Verfügung hat und einen möglichst grossen Speicher für den produzierten Wasserstoff.
Thoma: Die Wasserstoffwirtschaft in den Nachbarländern befindet sich derzeit im Aufbau. Dabei wird Europa in jedem Falle auf hohe Importe angewiesen sein. Schon im Sinne der Neutralität sollte sich die Schweiz die Möglichkeit zu Importen aus sämtlichen Nachbarländern offenhalten. Je eher die Wasserstoff-Wirtschaft von Politik und Schweizer Behörden eine klare Vorstellung ihrer Absichten erhält – eine Wasserstoff-Strategie mit spezifischen Zielen für Produktion, Importe, Verwendung in bestimmten Sektoren, Angaben zur errichtenden Transportinfrastruktur und Zeitplan – und je früher sie die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen kennt, desto schneller kann sie sich etablieren. Der Aufbau dieser Infrastruktur benötigt beträchtliche Investitionssummen und wird derzeit – mit Ausnahme der Schweiz – von allen europäischen Staaten vorangetrieben. Deutschland plant z.B. ein erstes Kernnetz im Jahr 2032 in Betrieb zu nehmen und startet spätestens im Jahr 2025 mit Investitionen in die Pipelineinfrastruktur. Da sich die Nachfrage erst im Laufe der Zeit entwickeln wird, können die Betreiber der Pipelines diese Investitionen gerade in den ersten Jahren nicht über entsprechende Tarife kompensieren. Eine staatliche Unterstützung z.B. in Form einer Anschubfinanzierung oder einer geeigneten Regulierung ist hier unerlässlich.
Decurtins: Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft in der Schweiz ist eine langfristige Perspektive für alle Akteure. Es braucht eine Anbindung an die internationalen Importrouten, um den Zugang zu günstigen H₂-Quellen zu sichern und Geschäftsmöglichkeiten im europäischen Markt zu ermöglichen. Damit Wasserstofftechnologien auf allen Wertschöpfungsstufen eingesetzt und bewilligt werden können, müssen die technischen Spezifikationen weiter ausgearbeitet und in die gesetzlichen Grundlagen für den Bau und Betrieb von Wasserstoffanlagen aufgenommen werden. Auch ohne staatliche Sicherheiten, die das Investitionsrisiko für Netzbetreiber etwas abmildern, wird es nicht gehen. Dazu braucht es Finanzierungskonzepte.
Wie steht die Schweiz beim Thema Wasserstoff/Power-to-X im internationalen Vergleich da?
Züttel: In der Schweiz wurden in der Vergangenheit wesentliche Entwicklungen im Bereich der Wasserstofftechnologie gemacht, das erste Auto mit Wasserstoff Explosionsmotor ist in der Schweiz gefahren, grosse (4 MW) industrielle Elektrolyse, Markus Friedli in Zollbrück mit dem Wasserstoffhaus, das erste Pistenfahrzeug mit Wasserstoff wurde in der Schweiz vorgestellt und Metallhydrid Speicher und Kompressoren wurden in der Schweiz durch GRZ entwickelt und vermarktet. Viele Komponenten für die Wasserstoff Technologie werden von Schweizer Firmen (Mitglieder von Hydropole) produziert und weltweit verkauft.
Thoma: Im internationalen Vergleich ist die Schweiz beim Wasserstoff sehr spät. Angesichts der Bedeutung der chemischen und pharmazeutischen Industrie und weitere Grossverbraucher in unserem Land mag das überraschen. Die künftige Infrastruktur profitiert davon, dass sie auf dem existierenden, hervorragend unterhaltenen Gasleitungsnetz für Import und Verteilung aufsetzen kann. Neubauten sind aber unerlässlich und hier sind unsere Nachbarstaaten schon wesentlich weiter, sowohl bei den Rahmenbedingungen als auch bei der Umsetzung. Im Power to X Bereich hat die Schweiz über den ETH-Bereich eine starke Stellung in der Forschung. Erste Pilotanlagen existieren. Ob sich aus diesen eine nachhaltige Industrie entwickeln kann, hängt davon ab, wie gut die Wasserstoff-Infrastruktur bis dahin ausgebaut werden kann.
Decurtins: Es besteht die Gefahr, dass die Schweiz beim Wasserstoff den internationalen Anschluss verpasst. Während die EU seit 2020 über eine Wasserstoffstrategie verfügt, warten wir in der Schweiz noch voraussichtlich bis Ende dieses Jahr, bis eine solche vorliegt. Deutschland plant bereits für 2030 Importrouten aus dem Süden via Österreich, an der Schweiz vorbei. Das gefährdet unmittelbar die Verfügbarkeit von wettbewerbsfähigem Wasserstoff für die Schweiz. Was Power-to-X betrifft, gibt es in der Schweiz mehrere erfolgreiche Projekte. Diese zeigen, dass die Technologie in der Praxis funktioniert.
Was erwarten Sie von der vom Bundesrat in Aussicht gestellten Wasserstoff-Strategie?
Züttel: Wasserstoff als Brennstoff in Kombikraftwerken kann in Zukunft zur Elektrizitäts- und Wärmeproduktion im Winter beitragen. Der Vorteil ist, dass Wasserstoff lokal aus erneuerbarer Elektrizität produziert und gespeichert werden kann. In der Industrie wird in Zukunft grüner Wasserstoff den Wasserstoff aus der Dampfreformierung von Methan und Naphtha ablösen.
Thoma: Wir wünschen uns eine klare zeitliche Roadmap mit der Ambition, ans europäische Wasserstoffnetz eingebunden zu werden. Nur so erhält die Schweizer Industrie Zugriff auf kostengünstigen Wasserstoff aus dem Norden und Süden Europas. Dabei wird es nicht ohne staatliche Unterstützung gehen: Es wird ein Mechanismus zur Unterstützung dieser anfänglichen Übergangszeit erforderlich sein. Die künftige Regulierung sollte hierbei auch die Verträglichkeit mit den Regeln der Nachbarländer sicherstellen.
Decurtins: Mit einer Wasserstoffstrategie sollen die Perspektiven eines Wasserstoffmarktes aufgezeigt und Orientierung geschaffen werden. Wasserstoff ist als Teil des Energiesystems zu denken. Das war bisher nicht der Fall. Allein drei Jahre hat es gedauert, bis der Bund die Auslegeordnung vorlegte. Immerhin stimmt die Stossrichtung, und es ist erfreulich, dass er viele Kernanliegen aufnimmt, für die sich die Gasbranche seit Jahren einsetzt, allerdings tut er dies noch sehr verhalten.
Worin liegen allgemein die Chancen von Wasserstoff / Power-to-X für die Schweiz? Wo die Risiken?
Züttel: Wasserstoff / P2X steht in Konkurrenz mit Bioöl. Biomasse zu Verbrennen und gleichzeitig CO2 aus der Atmosphäre zu absorbieren und dann mit Wasserstoff synthetische Kohlenwasserstoffe zu produzieren ist um Faktoren teurer als direkt Biomasse oder Bioöl, das CO2 neutral ist, einzusetzten. Die Chance für die Schweiz besteht in der Entwicklung von Komponenten und Prozessen. Die Risiken bestehen im Aufbau der Infrastruktur für den Energieträger bzw. Energiewandler der die grössten Vorteile bietet.
Thoma: Die technische Infrastruktur für Wasserstoff ist ausgereift und weltweit gründlich erprobt. Nun ist es Zeit, sie auch einzusetzen. Die Chancen liegen darin, dass wir die Schweizer Industrie zukunftssicher und erschwinglich versorgen können. Sie erhält Zugriff auf Wasserstoff aus unterschiedlichen Quellen – aus dem Süden, aus dem Norden und aus dem Westen – und kann jeweils vom günstigsten Markt profitieren können, ohne sich auf einen einzigen Partner festlegen zu müssen. Mit den geplanten wasserstoff-fähigen Reservekraftwerken für Notlagen gewinnen wir grössere Unabhängigkeit von den Schwankungen des europäischen Strommarktes. Und auch die exzellente Forschungslandschaft der Schweiz würde von dieser Chance profitieren. Das Risiko liegt darin, dass die Schweiz von der europäischen Wasserstoff-Infrastruktur abgeschnitten wird: Dies wird sich mittel- und langfristig negativ auf den Werkplatz und die Forschungslandschaft Schweiz auswirken.
Decurtins: Grüner Wasserstoff und andere erneuerbare Gase spielen eine wichtige Rolle bei der Defossilisierung der Energieversorgung. Der Umbau des Energiesystems zu einer sicheren, wirtschaftlichen und klimaneutralen Versorgung gelingt nur, wenn wir nicht nur Elektronen, sondern auch Moleküle nutzen. Power-to-Gas bietet ein grosses Potenzial für eine nachhaltige und klimaneutrale Energieversorgung, indem Strom aus erneuerbaren Quellen saisonal gespeichert werden kann. Wir müssen dafür besorgt sein, die Wasserstoffwirtschaft so aufzubauen, dass sie wirtschaftlich und wettbewerbsfähig ist, und wir dürfen den internationalen Anschluss nicht verpassen. Diese Risiken bestehen heute.