Ein Beitrag von Lukas Federer, Stv. Bereichsleiter Umwelt, Energie und Infrastruktur bei economiesuisse
Monokulturen sind meistens eine schlechte Idee. Egal ob auf einer Palmölplantage oder im eigenen Aktienportfolio, sie bergen meist unnötige Risiken und sind langfristig nicht nachhaltig. Diversifikation ist immer die überlegene Strategie. Das gilt auch bei unserer Energieversorgung. Es ist zwar weitherum unbestritten, dass Strom in unserer erneuerbaren Zukunft die tragende Rolle einnehmen wird. Doch selbst die Alleskönnerin unter den Energieträgern hat ihre technischen und ökonomischen Grenzen. Zum Beispiel bei Hochtemperaturprozessen in der Zement-, Glas- und Keramik-, Stahl-, Aluminium-, oder Zellstoffindustrie. Oder im Langstrecken-Gütertransport, auf dem Wasser oder auf dem Land. Oder teilweise für die saisonale Stromspeicherung. Oder auch als Ersatz für industrielle Rohstoffe in der Chemie, wo heute fossiler, grauer Wasserstoff eingesetzt wird. In diesen und anderen Bereichen kommen Moleküle wie Wasserstoff oder Wasserstoffderivate als erneuerbare Brenn- und Treibstoffe ins Spiel. Sie verfügen über eine hohe gravimetrische Energiedichte und können vergleichsweise langfristig gespeichert werden. Damit verfügen sie über wesentliche Vorteile, die auch Benzin, Diesel oder Erdgas ausmachen – nur eben ohne fossile Herkunft.
Wie sehr sich diese Technologien bis 2050 und darüber hinaus durchsetzen, kann heute niemand abschliessend beurteilen. Wir können lediglich den Bedarf annähern und damit den Möglichkeitsraum abstecken. Im Landverkehr dürfte der Endenergieverbrauch 2050 bei rund 36,4 TWh liegen. Davon könnten bis zu 19,5 TWh aus Wasserstoff und erneuerbaren Gasen stammen.[1] In der Luftfahrt sind wasserstoffbasierte, synthetische Treibstoffe eine zentrale Innovation. Das neue CO2-Gesetz sieht im Gleichschritt mit der EU steigende Beimischquoten vor (beginnend mit zwei Prozent ab 2025). Das Marktvolumen dürfte ab 2030 exponentiell steigen. In der Industrie geht eine aktuelle Studie[2] davon aus, dass rund 73 Prozent der heutigen Energienachfrage technisch gesehen elektrifizierbar seien. Unter dieser Annahme brauchen wir folglich etwa 27 Prozent der heutigen Energienachfrage in Form von Wasserstoff und erneuerbaren Gasen, eher 30 Prozent, um sicher zu sein. Die Schweizer Industrie verbraucht aktuell etwa 46 TWh Endenergie. Es braucht also mindestens 15 TWh erneuerbare Energie in Molekülform pro Jahr. Das wären etwa 50 Prozent der heutigen Gasnachfrage der Industrie (32 TWh). Wachstumsbedingt gehen wir davon aus, dass eher 70 bis 80 Prozent der heutigen Gasnachfrage nötig wären.
Das sind natürlich relativ grobe «Milchbüchli-Rechnungen». Aber sie veranschaulichen, dass erneuerbare Moleküle eine relevante Rolle spielen werden. Entsprechend sollten wir mit hoher Priorität die Rahmenbedingungen entwickeln. Kurzfristig gilt es, mit der Wasserstoffstrategie des Bundes einen tragfähigen Rahmen zu schaffen. Daneben müssen der Anschluss der Schweiz an den European Hydrogen Backbone und der inländische Infrastrukturbedarf gesichert werden. Der voreilige Rückbau bestehender Gasnetze, der aktuell in einigen Städten vorangetrieben wird, wären vor diesem Hintergrund zu überdenken. Ebenso braucht es zeitnah Spielregeln (bspw. Herkunftsnachweise), welche Wasserstoff und andere erneuerbare Brenn- und Treibstoffe international handelbar machen. Präzise mittel- bis langfristige Rahmenbedingungen sind heute schwierig zu formulieren. Grundsätzlich ist klar, dass es endlich eine stabile Marktordnung im Gasbereich braucht. Und dass die Schweiz eine aktive Energie-Aussenpolitik betreiben muss, um den Zugang zu erneuerbaren Molekülen aus anderen Herkunftsländern zu sichern. Aber am Ende haben wir keine Glaskugel. Deshalb muss die Strategie der Schweiz vor allem anpassungsfähig bleiben und iterativ aufgebaut werden. Dann vermeiden wir auch die schädliche Energie-Monokultur.
[1] Schätzung aufgrund Energieperspektiven 2050+, Technischer Bericht, Seite 218–219.
[2] https://www.e-cube.com/post/e-cube-release-a-study-about-industry-decarbonization-through?lang=en